offener Brief zur Bürgerbefragung Januar 2015

Am 19. Januar 2015 hat die Bürgerinitiative anlässlich des Grußwort OB 2014-2015 des Oberbürgermeisters zum Jahreswechsel und der darin erwähnten und kurz bevorstehenden Bürgerbefragung einen offenen Brief geschrieben.

Der Brief ging an den Oberbürgermeister, an die Mitglieder des Stadtrates, an die Bezirksvertreter und die Presse.

offener Brief Januar 2015

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Feith,

Sie haben als Überschrift über Ihren kürzlich veröffentlichten Gruß zum Jahreswechsel „Raum gestalten für eine gute Gemeinschaft“ gewählt.

Wir könnten diesem programmatischen Aufruf nur lebhaft zustimmen, wenn er bezogen auf die Thematik Gewerbegebiete nicht so gravierende Ungereimtheiten und Widersprüche enthielte.

Als Verantwortlicher stehen Sie an der Spitze der Verwaltung unserer Stadt. Daher erlauben wir uns, einige Fragen öffentlich an Sie zu richten und diese den legitimierten Vertretern der Bürgerschaft, den Mitgliedern des Rats, aber auch der Presse zur Kenntnis zu geben.

Nutzen der Online-Befragung

Sie erwecken den Eindruck, als ob die Internetbefragung zu einem Ratschlag der Bürger für den Rat der Stadt führen könnte, der dann in die Beratungen über die Stellungnahme der Stadt zum Regionalplan einfließen würde.

In aller Deutlichkeit ist dem zu widersprechen. Die beauftragte Agentur hat in der Sitzung des Unterausschusses „Bürgerbeteiligung und Transparenz“ am 3.11.2014 ausdrücklich bestätigt, dass die Internetbefragung zu keinem repräsentativen Ergebnis führen und daher nicht die Meinung der Bevölkerung unserer Stadt wiedergeben wird. Das Ergebnis wird also nur eine sogenannte „Informationswolke“ unterschiedlicher Meinungen sein. Der Nutzen liegt einzig darin, dass die Bandbreite der aufgelisteten Meinungen erkennbar wird.

Als Bürgerinitiative hatten wir schon früher in einigen Ausschusssitzungen hervorgehoben, dass gleiche Ergebnisse bei deutlich geringerem Aufwand in Informationsveranstaltungen zu gewinnen wären. Leider hat die Verwaltung es vorgezogen, die teure Variante zu wählen. Statt vielleicht 10.000 bis 15.000 Euro für einfache Infoveranstaltungen werden jetzt Gesamtkosten von mindestens 100.000 Euro, wahrscheinlich sogar deutlich mehr, verursacht. Darüber wurden und werden die Bürger allerdings nicht informiert.

[Erläuterung: gemäß. Beschlussvorlage 3253 vom 27.11.2013, Abschnitt 4. „Finanzielle Auswirkungen“. Es entstehen allein 10 Monats-Arbeitskräfte des mittleren und höheren Dienstes für Planverfahren zuzüglich weiteren (nicht spezifizierter) erhöhter Personalaufwands und die Agenturkosten]Herr Oberbürgermeister, hatten Sie nicht bei den Haushaltsberatungen vor kurzem ausgeführt, alles müsse auf den Prüfstand?

Wie müssen wir Bürger solche Unsinnigkeit verstehen, wenn gleichzeitig bei Freizeit, Bädern, Kunst und Kultur wichtige Förderbeiträge gestrichen werden?

Weitaus gravierender ist für uns allerdings die weitgehende Missachtung des dem entsprechenden Hauptausschussbeschluss zugrunde liegenden Bürgerantrages. Wurde dort nicht gefordert: Um dies zu erreichen, sollen „alle relevanten städtischen Unterlagen und Gutachten sowie Stellungnahmen von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden, Gewerkschaften usw. auf einer Informationsplattform online zu veröffentlicht werden“ Wir verweisen auf den Text in der Beschlussvorlage.

[Beschlussvorlage 3253 vom 27.11.2013, Abschnitt 2.2 „Anlass und Lösung“]Die Zielsetzung der Anregung wird damit begründet, eine umfassende Information und eine breite Bürgerbeteiligung an Entscheidungen von gesamtstädtischer Bedeutung erreichen zu wollen. Hierzu sollen alle relevanten städtischen Unterlagen und Gutachten sowie Stellungnahmen von Bürgerinitiativen, Umweltverbänden, Gewerkschaften usw. auf einer Informationsplattform online veröffentlicht werden. Die Pro/Contra/Enthaltung-Abstimmung soll in die Beratungen der politischen Gremien einfließen.

Sind Sie wirklich der Meinung, diese Voraussetzungen seien erfüllt?

Wo sind – um nur zwei Beispiele zu nennen – die schriftlichen Ergebnisse der gemäß Ratsbeschluss in Auftrag gegebenen ökologischen Gesamtgutachtens zum Ittertal und des Klimagutachtens einzusehen? Unseres Wissens liegen sie noch nicht vor.

  • Warum wird trotzdem die online-Befragung mit hohem Druck vorangetrieben?
  • Will die Stadt gegen besseres Wissen und unter Umgehung von Beschlüssen der Ratsmitglieder vollendete Tatsachen schaffen? Welche Wertigkeit sollen diese haben?
  • Geht es Ihnen in der Hauptsache darum, eine pauschale Zustimmung der Bürger unabhängig davon, ob sie repräsentativ ist, rechtzeitig in die Stellungnahme zum Regionalplan einfließen zu lassen?
  • Trauen Sie sich nicht, die ausstehenden Gutachten abzuwarten und den Bürgern die gesamte Wahrheit im Vorfeld mitzuteilen?

Dürfen wir daran erinnern, dass wir schon frühzeitig angeboten haben, zur Entwicklung der Fragebögen beizutragen, auch wenn wir aus den vorangestellten Gründen das Verfahren der Internetbefragung als ungeeignet und zu teuer ansehen? Die Wirtschaftsförderung hatte offenbar Gelegenheit dazu.

Warum verzichteten Sie auf die Kompetenz der Bürger?

Wollten Sie das geplante Ergebnis lieber nicht gefährden?

Die zurzeit vorliegenden, von der Verwaltung erstellten Thesen und Begründungen sind zum erheblichen Teil so angelegt, dass die Befragten argumentativ in Zustimmung zu den Gewerbegebieten gelenkt werden.

Ist das, Herr Oberbürgermeister Feith, so gewollt und der „Raum für eine gute Gemeinschaft“?

Zukunft als Industriestadt

Ihre suggestive Frage, ob die Klingenstadt nach 200 Jahren das Kapitel Industrie und Handwerk im Buch der Geschichte „zuschlägt“, ist zwar provozierend, sollte aber eigentlich von dem OB dieser Stadt nicht gestellt werden. Sie fügt sich im Duktus in das zuvor Kritisierte ein. Der Mangel an Geschichtskenntnis erschreckt uns.

Oder ist es nicht zutreffend, dass seit Ende des 13. Jahrhunderts und nicht erst seit 200 Jahren das Klingenhandwerk in Solingen nachweisbar ist? Und weiterhin, leitet sich Industrie nicht ab von industria (lat.) „Tugend des Fleißes“, und beschränkt sie sich etwa nur auf produzierendes Gewerbe?

Der Rückgang des sekundären Sektors ist doch nicht durch mangelnde Flächen, sondern durch den allgemeinen Wandel unserer industriellen Gesellschaft begründet. Rund um Solingen wird versucht, diesem Wandel zu begegnen. Die Entwicklung wird mit gutem Erfolg auf den tertiären Sektor ausgedehnt. Sollte das nicht auch für Solingen möglich sein?

Wie oft haben Sie, Herr Oberbürgermeister, bisher die zahlreichen Universitäten und Hochschulen allein der näheren Umgebung von etwa 50 km besucht, um für die Gründung von sogenannten Spin-off- Unternehmen in Solingen zu werben?

Zeigen nicht die jüngsten Ansiedlungen des tertiären Sektors in Solingen, dass die Stadt hier gute Chancen hat? Ist die Quiagen AG in Hilden, ein Spin-off, nicht auch ein hervorragendes Beispiel?

Flächenbedarf

Stellt sich das Szenario zum “erkennbaren Flächenbedarf“, wie es seitens der Verwaltung artikuliert und durch die Bergische Entwicklungsagentur formuliert wurde, nicht wie folgt dar?

Die Gebiete Buschfeld, Fürkeltrath II, Keusenhof und Piepersberg-West wurden auf Vorrat für die Fortschreibung des Landesentwicklungsplans und Regionalplans beim Thema Gewebe- bzw. Industriegebiete angemeldet. Stand das Argument, wie Sie es erläutert haben, wir müssen etwas anbieten können, wenn Interessenten anklopfen, im Vordergrund, oder woraus leiten Sie sonst den Bedarf ab?

Nach einer Mitteilung der IHK Wuppertal/Solingen verminderte sich seit 1990 die Anzahl der Industriebetriebe in Solingen von 229 auf 134, also um 41,5%.

[Veröffentlichung im Solinger Tageblatt am 30.12.2013]

  • Was ist eigentlich mit den Flächen geschehen, auf denen die weggefallenen Betriebe gewirtschaftet hatten?
  • Fällt der Stadt nichts anderes ein, als auf den frei werdenden industriellen Gewerbeflächen Discounter anzusiedeln, die den Großteil der Fläche für Parkraum benötigen? Discounter schaffen sicherlich nicht eine vergleichbare Anzahl von Arbeitsplätzen.
  • Wie kommen Sie angesichts dieser gewaltigen Veränderungen zu dem Ergebnis, die Umwandlung der Freiflächen im Ittertal würde zu einer vermehrten Ansiedlung von Unternehmen führen?

Die Frage drängt sich auf, ob der Bedarf überhaupt sorgfältig hinterfragt wurde.

  • Mit welchen belastbaren Prognosen ist er belegt?
  • Mit welchen Kalkulationen und daraus abgeleiteten Prognosen können Sie begründen, die Umwandlung der Freiflächen im Ittertal würden zu mehr Arbeitsplätzen und höheren Gewerbesteuereinnahmen führen?
  • Sind das nicht „Totschlagargumente“ ohne substanzielle Inhalte?
  • Warum erbringen Sie dazu keine Nachweise?

Wie erklären Sie die Divergenzen zwischen dem angeblich „erkennbaren“ Bedarf an neuen Gewerbeflächen und der Tatsache, dass z.T. seit Jahrzehnten für freie Flächen in vorhandenen Gewerbegebieten Investoren nicht gefunden werden können?

Selbst das Argument, Flächen für vorhandene Unternehmen vorhalten zu wollen, wird jedes Jahr durch die Teilnahme an der EXPO REAL widerlegt. Dort sucht bestimmt kein regionales Unternehmen nach Flächen vor der Haustür.

Sieht effektive Wirtschaftsförderung nicht anders aus?

Wirtschaftsförderung und Flächenverbrauch

Die Wirtschaftsförderung hat einen Auftrag als Makler von neu erschlossenen Gewerbeflächen. Der seit vielen Jahren erlebbare Strukturwandel und die Auswirkungen auf die Stadt werden dabei leider nicht gestaltet.

  • Warum werden reihenweise brachfallende innerstädtische Gewerbeflächen zum Nachteil produzierender Unternehmen in andere Siedlungsflächen umgewandelt?
  • Warum erhalten Supermärkte, Wohnanlagen und andere Nutzungen den Zuschlag?
  • Warum werden brachgefallene Flächen nicht entwickelt?
  • Warum bereiten städtische Dienststellen nicht rechtzeitig Bebauungspläne vor, die den Ausverkauf von innerstädtischen Gewerbeflächen verhindern?

Missachtung von übergeordneten Zielen und Vorgaben

Warum ermittelt die Wirtschaftsförderung mit höchst fragwürdigen Methoden, an denen selbst die Bezirksregierung im Textentwurf zum Regionalplan zweifelt, einen völlig überzogen Flächenbedarf für Industrieansiedlungen auf Solinger Gebiet?

Die Bezirksregierung rügt die angewandte Ermittlungsmethode. Der gemeldete Flächenbedarf sei wohl mehr politisch begründet. Er läge um ein Mehrfaches höher als etwa in Düsseldorf oder im Kreis Mettmann. Der angemeldete Bedarf sei nicht bedarfsgerecht, also nicht nachhaltig. [siehe Regionalplan Düsseldorf, Gesamtbegründung u.a. Kapitel 7.1.4.4.3, Stand Entwurf August 2014]

Damit widerspricht der angemeldete Bedarf einem elementaren Grundsatz des Regionalplans, der Nachhaltigkeit.

„Angesichts der hohen Freiraumwertigkeit in den bergischen Großstädten ist die geplante Inanspruchnahme gemäß Gewerbeflächenkonzept kritisch zu sehen“, schreibt die Bezirksregierung.

Warum verfolgt man trotz dieser massiven Bedenken und entgegen den Empfehlungen aller bisher vorliegenden Gutachten die Besiedlungsziele?

Dürfen wir Sie daran erinnern, dass der Landesentwicklungs- und Regionalplan u.a. zwingend vorschreiben:

  • Reduzierung des Flächenverbrauchs
  • Beachtung des Klimaschutzes bei der Raumnutzung
  • Biotopvernetzung
  • Schutz der Freiräume
  • Innenraumentwicklung vor Freiraumnutzung
  • Schutz landwirtschaftlicher Areale
  • Schutz der Böden durch stringente Minderung der Flächennutzung
  • Schutz der Erholungslandschaften

Wert von Naturraum und regionaler Lebensmittelerzeugung

Soll etwa gegen den Willen der Bürger die Vernichtung des Ittertals als Natur- und Erholungsraum, seine Eigenschaft als einmaliger Freiraum und als wichtiger Grünzug durchgesetzt werden?

Sie führen eine Internetbefragung der Bürger zur Ausweisung neuer Gewerbeflächen auf Basis von Thesen durch.

  • Warum steht in diesen Thesen nicht, dass die Umwandlung der Flächen in Industriegebiete die unwiederbringliche Zerstörung von Naturflächen und die Zerstörung von einmaligen Erholungslandschaften für viele Zehntausende Besucher bedeutet.
  • Warum werden die Bürger nicht darüber aufgeklärt, dass damit auch die Vernichtung von hochwertigen Landwirtschaftsflächen, Landwirtschaftsbetrieben und wertvollen Böden einhergeht.
  • Warum wird nicht erwähnt, dass die Ausweisung von Gewerbeflächen gleichzeitig der Verlust von der Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel (u.a. Ökolandbau), die der regionalen Versorgung dienen, bedeutet?
  • Warum erklären Sie nicht, dass Sie bedenkenlos gegen die Bodenschutzziele des Landes und des Bundes, wie sie in der Umweltministerkonferenz verabredet wurden, verstoßen wollen?
  • Warum unterdrücken Sie solche Informationspflichten?

Soll das Ergebnis einer „gelenkten“ Internetbefragung dazu dienen, die schweren Bedenken der Bezirksregierung gegen das Gewerbeflächenkonzept im Entwurf zum Regionalplan zu zerstreuen?

Widersprüche im eigenen Handeln

Ist Ihnen auch aufgefallen, dass im gleichen Zeitraum, in der Ihr Grußwort erschien, im Solinger Boten auch ein Bericht über das Aktionsprogramm „Nachhaltige Entwicklung in Solingen“ zu lesen war?

Erklärtes und vom Rat der Stadt im September 2013 als Aktionsprogramm beschlossenes Ziel ist die nachhaltige Entwicklung, wobei Klimaschutz und Klimaanpassung, Stadtentwicklung und Wirtschaft drei wichtige Themenfelder sind. Dem Bodenschutz wird zudem im „Aktionsprogramm Nachhaltige Entwicklung“ besondere Bedeutung zugemessen.

Nachhaltigkeit

Müssen wir uns als verantwortungsvolle Bürger dieser Stadt nicht die grundsätzliche Frage stellen, welche Flächen und Räume für die Besiedlung und auf welcher Zeitschiene sie für welche Nutzungen zur Verfügung stehen?

Maßstab kann dabei doch nur das aus den gleichberechtigten Kriterien Ökonomie, Ökologie und sozialen Erfordernissen gebildete Nachhaltigkeitsdreieck sein.

Seit Jahrhunderten hat sich in Solingen wegen der schwierigen topographischen Lage eine Mischkultur von Wohnen und Arbeiten herausgebildet. Sie trägt sogar den Namen „Bergisch Pepita“. Und weil seit Jahren ohne Nachhaltigkeitsstrategie im innerstädtischen Bereich in zunehmendem Maße Gewerbeflächen für produzierende Unternehmen in andere Nutzungen umgewandelt werden, wächst der Druck auf die wenigen verbliebenen Flächen im Freiraum.

Wir fragen Sie:

  • Wollen wir heute den Rest des „ökologischen Tafelsilbers“, das Ittertal verscherbeln?
  • Haben wir nicht heute schon die Grenzen der Belastungen für dieses Kleinod überschritten? Die Raumwiderstandsanalyse lässt das erkennen.
  • Welche Perspektiven ergeben sich für die nächsten 10 bis 15 Jahre, wenn wir heute diese Areale versiegeln.
  • Welche Freiräume und natürlichen Flächen bleiben der nächsten Generation?
  • Welche Strategie verfolgt Solingen, um für Unternehmen z.B. des tertiären Sektors, die Arbeitsplätze in den Innenräumen schaffen, besonders attraktiv zu werden?
  • Wie lassen sich die in unserer Region aufgrund der Topographie nur begrenzt verfügbaren Ressourcen Böden und Flächen in bestmöglicher und nachhaltiger Weise einsetzen und nutzen?
  • Welche Entwicklungsstrategien und Zukunftspläne haben Sie als Oberbürgermeister in Ihrer Amtszeit entwickelt?

Das sind brennende Fragen, die alle Bürger berühren.

Wir greifen Ihre Kernfrage in Ihrem Grußwort gerne auf, erweitern sie allerdings um die elementare Bedingung der Nachhaltigkeit. Denn darauf haben Sie in Ihrer Frage verzichtet.

Wie soll Solingen auch in Zukunft seinen Industrieunternehmen Wachstumsmöglichkeiten in der Klingenstadt auf der Grundlage nachhaltiger Entwicklung anbieten?“

Darauf, Herr Oberbürgermeister Feith, sollten sich unsere Anstrengungen konzentrieren.

Aus unserer Sicht gerne gemeinsam!
Mit freundlichen Grüßen

Bürgerinitiative Rettet das Ittertal